Die Sylter Royal hat in Austernkreisen einen ausgezeichneten Ruf: keine Skandale, kultivierte Lebensform, bestens integriert – im Gegensatz zu ihren wilden Verwandten. Diese machen, was sie wollen, sind umtriebig und geben sich sogar mit den Miesmuscheln ab.
Aufbruchstimmung auf dem Betriebsgelände von «Dittmeyer’s Austern-Compagnie» in List: Zwei Männer in Watstiefeln wuchten leere Kisten auf ein Boot. Es ist kurz vor Niedrigwasser, Arbeitsbeginn für die beiden Austernfischer Christoffer Bohlig und Ulf Schmidt, die sich bei Ebbe normalerweise um ihre kultivierten Schützlinge, besser bekannt unter ihrem Markennamen Sylter Royal, in der Blidselbucht kümmern. Heute aber gehen Christoffer und Ulf ihrer Sammelleidenschaft nach und fahren raus zu den wilden Austern. Ungefähr 40-mal im Jahr schauen sie bei der buckligen Verwandtschaft ihrer Zuchtaustern vorbei, die abseits der Austernbänke ein wildes Leben führt. «Die Wilden sind unförmiger, grösser und schmecken auch etwas kräftiger», erklärt Ulf und startet den Trecker, der das Austernboot zum Hafen zieht.
Zehn Minuten später gleitet die «Sofia» durch die silbern glitzernde See. Christoffer und Ulf stehen entspannt an Deck, blinzeln in die Herbstsonne und unterhalten sich über die magere Ausbeute ihrer gestrigen Makrelenjagd. Während sich die Fische langsam, aber sicher in ihre Winterquartiere Richtung Irland verabschieden, sind die wilden Austern ganzjährige Beute für die beiden Austernfischer. Ihr Wissen um die Austernvorkommen führt sie an den Ellenbogen, eine Seekarte weist ihnen den Weg durchs Lister Tief. «Seehund auf zwölf Uhr», ruft Ulf und zeigt auf einen dunklen Punkt auf der fast spiegelglatten See. Die Sicht könnte besser nicht sein, sowohl über als auch unter Wasser. Bei nur noch anderthalb Metern Wasser unterm Kiel sieht man vereinzelte Austern am Grund. «Aber das ist noch gar nichts, wartet mal ab, bis wir an der Muschelbank sind», sagt Christoffer, schiebt den Gashebel auf Anschlag und beschleunigt auf zwölf Knoten. Einige Minuten später drosselt er das Tempo, manövriert das Boot in eine schmale Rinne und bringt es vor einer dunklen Fläche zum Stehen – Austern und Muscheln wie Sand am Meer. «So, wir lassen uns nun langsam trockenfallen, packen unsere Kisten voll und lassen uns dann in ungefähr zwei Stunden vom auflaufenden Wasser mit der Strömung wieder raustragen.» Das hört sich nach einem Plan an. «Hey, Käpt’n», ruft Ulf, «wir treiben ab. Mach mal die Stangen klar.» Während Christoffer im kniehohen Wasser das Boot ein paar Meter zurückschiebt und zwei Ankerstangen in den Boden rammt, lässt Ulf rund zwei Dutzend Kisten über eine provisorisch angelegte Holzrutsche von Bord gleiten. Das, was sich wie ein spitzkantiger Teppich ausbreitet, sind die wilden Vertreter der ursprünglich aus Japan stammenden Pazifischen Felsenauster. Mit ihren unförmigen Auswüchsen und Beulen erinnern sie an eingeschlagene Meteoriten, nicht an eine Delikatesse, was sie aber zweifelsohne sind. Crassostrea gigas, so der wissenschaftliche Name der Auster, wurde 1986 von «Dittmeyer’s Austern-Compagnie» auf Sylt angesiedelt und wird seitdem in Deutschlands einziger Austernzucht kultiviert. Ulf und Christoffer hocken sich mit je drei leeren Kisten auf den Austernberg und streifen sich ihre Arbeitshandschuhe über. «Die Schalen sind scharf wie Rasierklingen. Vorsicht!»
Die erste Kiste füllt sich mit gemässigten Wilden – Einzelstücke, die man eben auch als solche verkaufen kann. In der zweiten Kiste landen zusammengewachsene Austern – grosse Klumpen, die aus bis zu 15 Austern bestehen. Das würde auch mit den kultivierten Hoheiten auf den Austernbänken passieren, wenn sie nicht regelmässig von den Austernfischern gedreht und gewendet würden. «Wir haben auch schon mal versucht, die zusammengewachsenen Wilden vor Ort mit Hammer und Schraubenzieher auseinanderzukriegen, aber das dauert viel zu lange.» Stattdessen werden die Klumpen im betriebseigenen Bistro in List abgekocht. Das Austernfleisch lässt sich danach einfach ablösen und zum Beispiel zum Überbacken nutzen. In der dritten Kiste landen kleine Austern, die als Setzlinge für die eigene Zucht genutzt werden. Egal ob klein, gross, einzeln oder zusammengewachsen – alle eingesammelten Austern werden am nächsten Tag in Netzsäcke gepackt, in die Blidselbucht gebracht und auf den Austernbänken ausgelegt, eine Veterinärsvorschrift, die gewährleistet, dass auch die wilden Austern regelmässig getestet und untersucht werden. Überhaupt ist die Wilde-Austern-Fischerei mit ziemlich vielen Auflagen, Behörden- und Schriftkram verbunden. Seit drei Jahren hat die Austern-Compagnie die Genehmigung, wilde Austern im Wattenmeer zu sammeln. Es muss akribisch dokumentiert werden, wie viele Austern wann und wo entnommen wurden. »Das ist meine Freitagsarbeit, da mache ich Homeoffice«, sagt Christoffer, der bereits seit 14 Jahren bei Dittmeyer arbeitet. Begonnen hat er als Lehrling, hat dann ein Studium der Verfahrenstechnik eingeschoben, mittlerweile ist er Betriebsleiter. Obwohl ihm der Bürotag ermöglicht, einen Tag mehr bei seiner Familie in Flensburg zu sein, macht er keinen Hehl daraus, dass ihm die Arbeitstage draussen auf dem Boot oder an den Austernbänken besser gefallen, als am Schreibtisch zu sitzen. Ulf tickt genauso, auch er verbringt seine Arbeits- und Freizeit am liebsten unter freiem Himmel, bei Wind und Wetter.
Als leidenschaftliche Kitesurfer und Surfer fühlen sich die beiden im Wasser mindestens so wohl wie ihre Austern. Die fühlen sich mittlerweile sogar so wohl, dass sie nicht nur ordentlich wachsen, sondern sich aufgrund der erhöhten Meerestemperatur auch vermehren. Eine Entwicklung, die insbesondere Naturschützern ein Dorn im Auge ist, denn mit der Pazifischen Auster breitet sich eine fremde Austernart im Wattenmeer aus. Und da sie sich ähnlich wie Miesmuscheln am liebsten an harten Substraten festsetzt, befürchten einige noch dazu das Aus für die Miesmuschel. «Unbegründet», sagt Christoffer und zeigt auf die Austern-Miesmuschel-Ansammlung vor ihm am Boden. «Die Miesmuschel siedelt mittlerweile zwischen beziehungsweise unter den grossen Austern. Dort ist sie wesentlich besser vor Fressfeinden wie Möwen und Eiderenten geschützt, was zu einer deutlichen Zunahme der Wildbestände von Miesmuscheln geführt hat.» Ob das, was einige als Plage und Verdrängung bezeichnen und Christoffer als Bereicherung und Vielfalt bewertet, unmittelbar der Sylter Royal anzurechnen ist, ist unklar. Es ist zumindest nicht nachzuweisen, dass die wilden Austern einen royalen Stammbaum haben: »Wir haben hier eine krasse Norddrift, die ersten wilden Austern wurden Anfang der 90er aber südlich von Hörnum gesehen. Wie soll das funktionieren? Wahrscheinlicher ist, dass die crassostrea von Holland rübergedriftet ist, weil sie dort bereits seit den 50ern gezüchtet wird.»
Mittlerweile macht das Geschäft mit den Wilden rund zehn Prozent vom Gesamtumsatz aus. Der überwiegende Teil, rund 90 Prozent, wird im betriebseigenen Restaurant verarbeitet. Der Laie mag sich fragen: Warum überhaupt noch Austern züchten, wenn sie sich wild vermehren? «Die wilden Austern schmecken gut. Aber die meisten Leute wollen eben doch die Sylter Royal. Und das ist auch gut so», sagt Ulf, der seit fünf Jahren zum Team der letzten Austernfischer Deutschlands gehört. Früher gab es in der Nordsee Austern und Fischer in rauen Mengen. Doch die heimische Auster ist seit den 1950er-Jahren ganz aus dem Wattenmeer vor Sylt verschwunden, da sie zu umfangreich und zu unachtsam gefischt wurde – und nicht wie heute nachhaltig und von Hand gesammelt wird.
Nach gut zwei Stunden sind alle Kisten gefüllt und auch die Rinne füllt sich wieder zusehends mit Wasser. Christoffer und Ulf ziehen die Kisten mit einer Eisenstange hoch ins Boot. «Bis zu vier Tonnen könnten wir theoretisch transportieren, dann hängen wir aber auch hinten schon ganz schön runter», erklärt Ulf und lässt den Motor an. Auch mit der heutigen Ausbeute von rund zweieinhalb Tonnen Austern geht der «Sofia» das Heck ordentlich auf Grundwasser. 17 Kisten à 300 Austern wiegen eben nicht nur für Feinschmecker ganz schön schwer. Eine Stunde später herrscht auf dem Betriebsgelände Aufbruchstimmung. Zwei Männer in Watstiefeln fahren mit dem Gabelstapler volle Austernkisten in die Produktionshalle. Es ist kurz vor Sonnenuntergang. Christoffer und Ulf wollen noch raus zum Angeln.
Infokasten
Das Sammeln von wilden Austern untersteht dem Fischereigesetz. Nur Inhaber eines Fischereischeins dürfen wilde Austern aus dem Wattenmeer entnehmen, pro Tag bis zu einem Zehn-Liter-Eimer. Geniessen darf sie jeder, zum Beispiel in Dittmeyer’s Austernstube in List, auch bekannt als Bistro Austernmeyer. Dort gibt es die wilden Austern natur, als Tartar, gedünstet oder gratiniert mit Kräuterbutter. Alle Informationen rund um den Urlaub auf Deutschlands nördlichster Insel unter:
Eine Reise nach Sylt ist buchbar bei railtour suisse: www.railtour.ch.